DEUTSCHER LIEDERHORT
Zwischen Volksliedideal und Quellentreue

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Der Musiklehrer und Chorleiter Ludwig Erk (1807-1883) veröffentlichte 1856 den ersten Band des "Deutschen Liederhortes" - auf der Basis seiner äußerst umfangreichen handschriftlichen Liedersammlung, angelegt mit wissenschaftlichem Anspruch und entsprechender Methodik.

Zeichnete Erk selbst Lieder auf, so notierte er akribisch Name und Alter und Beruf des Vorsängers, auch aus welcher Zeit das Lied dem Sänger bekannt war und zu welchen Gelegenheiten es gewöhnlich gesungen wurde, sowie dialektale Besonderheiten (Schade 1973: 49ff.). Trotz seiner Hinwendung zur - in Erks Diktion - "mündlichen Überlieferung" blieb er idealtypischen Ideen von Inhalt, Sprache und pädagogischer Funktion von Volksliedern verhaftet. So sind viele im Liederhort abgedruckte Lieder das Ergebnis einer umfangreichen Redaktion auf der Suche nach einer vermeintlich "echten" und "unverfälschten" Version des jeweiligen Liedes. Nicht immer ist nachvollziehbar, nach welchen Kriterien diese Beurteilung erfolgte (vgl. Schade 1973: 51f.).

Äußerst selektiv verfuhr später Franz Magnus Böhme (1827-1898), der im Auftrag des Preußischen Kultusministeriums und gestützt auf Erks voluminösen Nachlass eine dreibändige Ausgabe des Liederhorts nachlegte. Einfach gesagt: Böhme sortierte knallhart aus. Er formulierte das im Vorwort zum ersten Band (1893) so: "Das Vorhandene, geradezu Werthlose, sowie viel Häßliches und Schmutziges mußte ausgeschieden und von der Unmasse des Verbleibenden wieder nur das Werthvollere und Vorzüglichste ausgewählt werden.“

Wolfgang Steinitz (1905-1967), der sich bei der Herausgabe seiner bekannten Liedersammlung ebenfalls auf Erks Nachlass stützte, kritisierte insbesondere die bewusste Unterdrückung antimilitaristischer Varianten bestimmter Lieder (vgl. Steinitz 1979: 21). Völlig ausgeblendet bleiben zahlreiche sprach- und länderübergreifende Bezüge des Liederhort-Repertoires, die erst durch eine Perspektive zu Tage treten, die den rein nationalen Blickwinkel verlässt (vgl. Rörich 2002: 29).

Trotz dieser Einschränkungen gilt der Liederhort nach wie vor als wichtige Quelle zum populären deutschsprachigen Lied des 19. Jahrhunderts. Zu vielen Liedern finden sich mehrere Text- und Melodievarianten. Der Erk-Böhme - wie die dreibändige Ausgabe auch kurz genannt wird - entfaltete kanonbildende Wirkung (vgl. John 2014: 69). Vieles, was bis heute gemeinhin als "Volkslied" gilt, findet sich dort versammelt.

"Es stand eine Linde im tiefen Thal/ war oben breit und unten schmal/ war oben breit und unten schmal.
Ludwig Erk DEUTSCHER LIEDERHORT (1856). Lied 1: "Die Lind im tiefen Thal"

Quellen:
Schade, Ernst (1973): "Der Wandel der Intentionen und der Methoden für die Aufzeichnung von Volksliedern im 19. Jahrhundert am Beispiel der Arbeiten Ludwig Erks" in: Jahrbuch für Volksliedforschung 18. Jahrgang. Freiburg i.Br.

Steinitz, Wolfgang (1979): "Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten. Band I und II zusammengebunden" deb verlag das europäische buch. Sonderausgabe für Zweitausendeins. Westberlin.

Rörich, Lutz (2002): "Sagenballade." in: Rörich, Lutz: Gesammelte Schriften zur Volkslied- und Volksballadenforschung. Münster: Waxmann.

John, Eckart (2014): "Erfundene Tradition - Volkslieder als nationale Stereotypen" in: Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.): Typisch deutsch. Bielefeld: transcript-Verlag.

"Deutscher Liederhort" auf de.wikipedia.org (Zugriff 22.08.2020).


DIGITALISATE (HathiTrust Digital Library):
Deutscher Liederhort (1856 Hrsg Ludwig Erk)
Deutscher Liederhort (1893 Hrsg F.M.Böhme, Band 1)
Deutscher Liederhort (1893 Hrsg F.M.Böhme, Band 2)
Deutscher Liederhort (1894 Hrsg F.M.Böhme, Band 3)

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